Foto: Kathrin Dorsch

27.04.2023
»Wir haben manchmal Rasen gegessen!«­

Geschichtsunterricht von seiner besten Seite: Holocaust-Überlebender Abba Naor auf Einladung von Alexander Hold am Gymnasium in Immenstadt

»Das ist ein ganz besonderer Tag für uns gewesen«­ – darin waren sich nicht nur die Schülerinnen und Schüler der Q11 des Immenstädter Gymnasiums einig. Auch die Geschichtslehrkräfte Katharina Ries und Gerhard Klein hatten ihre Klassen noch nie so aufmerksam und ruhig erlebt. Die Geschichte von Abba Naor, der mit 95 Jahren auf Einladung von Vizepräsident Alexander Hold ins Allgäu gekommen war, um von seiner Kindheit im Ghetto, der Verfolgung durch die Nazis und seiner Zeit im KZ zu berichten, ging merklich unter die Haut. Über 3 Stunden nahm sich der gebürtige Litauer Zeit, um seine erschütternden und beklemmenden Erlebnisse zu schildern. Mit Originalbildern aus dem Ghetto in Kaunas und den Konzentrationslagern in Stutthof bei Danzig und Kaufering untermauert.

Es ist ein Geschenk, dass Herr Naor so fit ist und sein Versprechen, nach seinem Besuch im letzten Jahr noch einmal ins Allgäu zu kommen, nun einlöst«­, freute sich Hold zu Beginn. Rosi Oppold, die 3. Bürgermeisterin der Stadt Immenstadt, brachte es auf den Punkt: »Es ist für uns alle ein Geschenk, dass Sie heute aus ihrem Leben berichten und wir die seltene Chance haben, einen Zeitzeugen des NS-Regimes begrüßen zu dürfen.«­ Abba Naor durfte sich anschließend in das Goldene Buch der Stadt eintragen. Vizepräsident Hold machte den Jugendlichen deutlich: »Die persönliche Schilderung ist durch nichts zu ersetzen. Ihr habt sicherlich schon viel über das Nazi-Regime gelesen oder gehört. Aber es von einem Mann erzählt zu bekommen, der diese schrecklichen und unmenschlichen Grausamkeiten am eigenen Leib erfahren hat, das ist etwas, was immer im Gedächtnis bleiben wird und spürbar unter die Haut geht. Solange es möglich ist, will ich helfen, dass Schülerinnen und Schüler diese Möglichkeit nutzen können.«­ Die Schilderungen Naors sorgten für konzentriertes Schweigen und eine beklemmende Stille während seines über 2-stündigen Vortrags. Begonnen mit der beschaulichen Kindheit in Litauen, bis die Sowjets und später die Nazis kamen. Dann seine Zeit im Ghetto in Kaunas, wo sein älterer Bruder erschossen wurde. Später im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig, als er seine Mutter und seinen jüngeren Bruder das letzte Mal sah. Beide wurden im Juli 1944 nach Auschwitz deportiert und dort noch am selben Tag vergast. Seine Zeit im gefürchteten Außenlager Kaufering I des KZ Dachau. Zwölf Stunden Zwangsarbeit, unerträglicher Hunger, Verrat, Läuse, Schläge und die stete Gewissheit: »Wir wussten, dass wir sterben würden. Wir wussten nur nicht, wie und wann.«­ Am 2. Mai 1945 wurde er mit 17 Jahren auf dem Todesmarsch in den Süden von den Amerikanern befreit.

Klare Botschaft an die Jugendlichen
»Haben Sie Alpträume?«­ – war eine der vielen Fragen der Schülerinnen und Schüler, die Naor geduldig beantwortete. »Erzählen ist ein Mittel, um normal zu bleiben. Ich brauche keinen Psychologen. Ich war auch noch nie bei einem Psychologen. Was macht man da? Reden. Und was mache ich hier bei Euch? Reden. Eben. Ihr seid meine Psychologen«­, so seine Antwort. Die Schilderungen über die 9 Tage Todesmarsch vom KZ Dachau Richtung Süden ohne Verpflegung ließ allen Anwesenden einen Schauer über den Rücken laufen. Wer vor Entkräftung nicht weiterlaufen konnte oder hinfiel, wurde erschossen. »Wir hatten nichts zu trinken und nichts zu essen. Wir haben manchmal Rasen gegessen. Rasen schmeckt gar nicht so schlecht, kann ich euch sagen. Vor allem die Wurzel.«­ Am 2. Mai 1945 wurde Naor mit 17 Jahren in Waakirchen bei Bad Tölz von Einheiten der US-Armee befreit. »Eines kann ich euch sagen, liebe Kinder. Nie aufgeben. Niemals! Das Leben ist eine feine Sache. Wenn man das richtige tut. Ihr seid die Zukunft. Nutzt diese Chance.«­